Mystic Retro
Hallo zusammen,
heute konnten wir erfahren, dass der US-Geheimdienst nicht nur in der Lage ist, die Telefongespräche eines kompletten Landes aufzunehmen (das Programm dazu hat den treffenden Namen „Mystic“, womit manche Telefongespräche, die ich schon mit der Kundenhotline der Telekom geführt habe, geradezu perfekt beschrieben werden). Zudem ist es sogar möglich, die Gespräche eines kompletten Monats zu speichern (das Überwachungsprogramm dazu heißt „Retro“, weil es so schön 70er-Jahre-mäßig an Richard Nixon erinnert). Aber ob diese ganze Mühe tatsächlich den gewünschten Effekt bringt, das sei mal dahingestellt. Schon beim ersten abgehörten Beispieltelefonat kommen Zweifel auf:
„Häh?“
„Ja, Hallo – spreche ich mit Sanitär Laubenschläger?“
„Häh?“
„Sanitär Laubenschläger? Das ist doch diese Nummer hier, oder?“
„Kann schon sein.“
„Aaah! Das ist ja wunderbar! Ich bin sooo erleichtert. Wir haben nämlich ein Rohrleck in der Küche, das heißt, also nicht genau mittig in der Küche, sondern mehr so hinter einem Einbauschrank irgendwo im unmittelbaren Nahbereich der Spülmaschine links. Irgendwo ganz weit dahinter. Und da spritzt die ganze Zeit das Wasser raus. Wir kommen aber selber nicht da dran! Und wir wissen auch nicht, wie man das abstellt und jetzt ist die ganze Küche schon voller Wasser und mein Mann flucht die ganze Zeit und hat sich glaub ich auch den Fuß gebrochen – oder angebrochen, das weiß ich nicht genau – weil er ausgerutscht ist. Aber ich kann ja schlecht gerade jetzt den Krankenwagen anrufen, wo das Wasser hier so spritzt. Wir sind beide Lehrer. Können Sie bitte vorbei kommen und das Rohr reparieren?“
„Ich bin in fünf Minuten da.“
Was hier auf den ersten Blick wie die barmherzige und schnelle Lösung eines sanitärnotdiensttechnischen Problems durch den Fachmann erscheint, ist bloße Illusion. Denn der Satz „Ich bin in fünf Minuten da.“ ist tatsächlich eine der unverschämtesten Lügen, die je in ein Telefon hineingesprochen wurden. Keineswegs hat der hier zitierte Handwerker vor, seine Werkstatt überhaupt jemals zu verlassen. Vielmehr hat er dem vorangegangenen Telefonat gezielt gelauscht und dabei selektierend die Reizbegriffe „Einbauschrank“ und „Lehrer“ abgespeichert. Und so unterscheidet sich seine wirkliche Reaktion nun inhaltlich deutlich von der akustischen Affektbeschwichtigung „Ich bin in fünf Minuten da“. Was der Mann tatsächlich macht, ist folgendes: er notiert sich die Telefonnummer auf einem kleinen gelben Zettel und geht den ganzen Tag nicht mehr an den Apparat, wenn er auf seinem Display auch nur eine kleine Übereinstimmung mit dieser Nummer feststellt.
Und genau hier zeigt sich das größte Problem, das der US-Geheimdienst NSA mit seinen gewaltigen Überwachungsprogrammen „Mystic“ und „Retro“ so hat: die Leute lügen am Telefon wie gedruckt. Selbst wenn man die Fähigkeit besäße, die Telefonate eines ganzen Landes und der letzten achtzig Jahre rückwirkend abzuhören – man würde nur das erfahren, was die Menschen so ins Telefon reden. Und das entspricht leider immer wieder nur zu ganz, ganz kleinen Prozentsätzen der Wahrheit:
„Nein, Schatz – ich kann heute Abend nicht mit Schröders essen. Ich hab noch nen Riesenhaufen Arbeit im Büro.“
„Die Kinder waren den ganzen Tag soooo brav. Das war die entspannteste Geburtstagsfeier, die wir mit Fabi bisher erlebt haben.“
„Wir haben Ihre Bewerbung natürlich für die Zukunft gespeichert und werden dann im Bedarfsfall auf sie zurückkommen.“
„Das Attentat findet übermorgen statt. Bringt bitte alle die Bomben und Tarnklamotten mit.“
Es ist nicht auszuschließen, dass die NSA sogar gezielt am Telefon verkohlt wird.
„Wir sind in fünf Minuten da.“
Aber – bei aller Kritik macht einem das den amerikanischen Geheimdienst und seine Mitarbeiter auch wieder ein bisschen sympathischer: immerhin sie sind fleißig und glauben an die Wahrheit. Einschränkend muss man aber folgendes anmerken:
Vor ein paar Tagen hat der US-Präsident ja auch mal wieder selbst mit seinem russischen Amtskollegen telefoniert.
Und was immer sich die beiden da so erzählt haben. Es drängt sich die Vermutung auf, dass das weniger wahr war als ein kleines bisschen, na sagenwirmal, Retro.